10 DINGE, DIE ASTRID LINDGREN MICH GELEHRT HAT

10 DINGE, DIE ASTRID LINDGREN MICH GELEHRT HAT

14. JULI 2016

©Jacob Forsell/Saltkråkan AB

Wenn ich von Astrid Lindgren spreche, löst es bei dir bestimmt sofort ein Gefühl aus und führt dir bestimmte Bilder vor Augen. Ein rotes Schwedenhäuschen, Michels verschmitztes Lächeln, Ferien auf Saltkrokan, Karlsson auf dem Dach, eine bunte Villa, eine dreckverschmiertes Ronjagesicht, Krach von Lotta aus der Krachmacherstraße, …

Ich selbst habe Astrid Lindgren gelesen, als Hörspiel gehört, im TV und ihm Theater angeguckt, die volle Dröhnung.
Ihre Geschichten sind so wunderbar. Wenn ich mich heute damit beschäftige, lerne ich noch vieles dazu und merke Astrid Lindgren war ihrer Zeit extrem voraus. Ihre Literatur markierte eine Wende im Umgang mit Kindern.

1. Klassische Erziehung ist Quatsch  

Die Promifigur: Pippi Langstrumpf
Der Hype ist ungebrochen, Pippi hat Millionen Kinderherzen erreicht und ja: Sie ist einfach eine coole Socke.
Als Kind fand ich Pippis Leben einfach nur toll, Schlafen wann man will, Süßigkeiten noch und nöcher, ein Pferd auf der Veranda, keine Schule,… Ich war ungefähr jedes zweite Fasching als Pippi Langstrumpf verkleidet.

Die Botschaft des Buches die mich heute erreicht: Pippilotta Viktualia Rollgardina Schokominza Efraimstochter Langstrumpf muss nicht erzogen werden!!!
An Kindern rumzuerziehen und so zu tun als wüssten wir Erwachsene was denn Bitteschön alles richtig und falsch ist, war schon damals genauso falsch wie heute. Und das macht uns Astrid Lindgren eindrücklich, bunt und mit viel Herz deutlich!

2. Ohne Erziehung entwicklen Kinder trotzdem eigene und wichtige Werte

Pippi ist das stärkste Mädchen der Welt und sie macht was ihr gefällt.
Und obwohl sie keiner erzieht, ist sie emphatisch und mitfühlend, sie ist selbstbewusst und gerecht, nicht nachtragend und geduldig, offen und menschenzugewandt. Ist es nicht das, was tagein tagaus versucht wird, unseren Kindern in unseren Bildungseinrichtungen zu vermitteln?
Die Erwachsenen wollen Pippi trotzdem ständig erziehen und ihr klar machen, so kann ein Kind nicht leben.
Pippi wimmelt Tante Prusseliese ab, sogar die Polizei und hält sich regelmäßig die Gauner vom Hals. Ganz ohne Präventionsgrogramm.

Pippi erschien zu einer Zeit (1945) als Erziehung sehr groß geschrieben wurde und bedeutete, den Willen des Kindes zu brechen. Gewalt, Demütigungen, Strafen und Schimpfen waren die Methoden dieser Zeit. Es ging um eine auf Macht basierende Erziehung.
Astrid Lindgren selbst hat in einem Interview mal gesagt: „… Wenn Pippi übrigens jemals eine Funktion gehabt hat, außer zu unterhalten, dann war es die, zu zeigen, daß man Macht haben kann und sie nicht mißbraucht, und das ist wohl das Schwerste, was es im Leben gibt.“

3. Wir müssen liebevolle Achtung voreinander haben Oder: keine Erziehung heißt nicht Anti-Autoritär

Alle die nun dachten, es gehe ihr um Anti-Autorität nahm sie den Wind aus den Segeln und brachte auf den Punkt, worum es eigentlich geht: „Freie und unautoritäre Erziehung bedeutet nicht, dass man Kinder sich selbst überlässt, dass sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Es bedeutet nicht, dass sie ohne Normen aufwachsen sollen, was sie selber übrigens gar nicht wünschen. Ganz gewiss sollen Kinder Achtung vor ihren Eltern haben, aber ganz gewiss sollen Eltern auch Achtung vor ihren Kindern haben, und niemals dürfen sie ihre natürliche Überlegenheit missbrauchen. Liebevolle Achtung voreinander, das möchte man allen Eltern und Kindern wünschen.“ *

Diese Worte berühren mich tief, besonders wenn ich mir klar mache aus welcher Zeit sie stammen. Ich kann kaum glauben, dass Pippi Langstrumpf 1945 geschrieben wurde und sehr viele Erzieher*innen und Pädagog*innen heute -70 Jahre später- immer noch so tun als wären Demütigung und Strafen eine Möglichkeit zu erziehen.

© Jacob Forsell/Saltkråkan AB

4. Warum gewaltfreie Erziehung etwas mit der Zukunft und dem Frieden unserer Welt zu tun hat

Bei der Verleihung des Friedenspreises fand Astrid Lindgren sehr klare Worte zum Thema Gewalt gegenüber Kindern. Auch diese Worte gewinnen neu an Gewicht, wenn wir die Welt anschauen und Frieden nur vergeblich suchen. Ich zitiere aus ihrer Rede*:

„Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die Geschäfte unserer Welt übernehmen, sofern dann noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es, die über Krieg und Frieden bestimmen werden und darüber, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. In einer, wo die Gewalt nur ständig weiterwächst, oder in einer, wo die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben.

Es sind immer auch einzelne Menschen, die die Geschichte der Welt bestimmen. Warum aber waren denn nicht alle gut und besonnen? Warum gibt es so viele, die nur Gewalt wollten und nach Macht strebten? Waren einige von Natur aus böse? Das konnte ich damals nicht glauben, und ich glaube es auch heute nicht.

hat Goethe einmal gesagt, und dann muss es wohl wahr sein.

Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung sein Leben lang. Und das ist auch dann gut, wenn das Kind später nicht zu denen gehört, die das Schicksal der Welt lenken.
Sollte das Kind aber wider Erwarten eines Tages doch zu diesen Mächtigen gehören, dann ist es für uns alle ein Glück, wenn seinen Grundhaltung durch Liebe geprägt worden ist und nicht durch Gewalt.
Auch künftige Staatsmänner und Politiker werden zu Charakteren geformt, noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben – das ist erschreckend, aber es ist wahr.

… in keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun.“ *

Deutschland hat erst 2000 das Gesetz zur gewaltfreien Erziehung verabschiedet. Diese Rede hat Astrid Lindgren 1978 gehalten.

Was mich die ProtagonistenInnen ihrer Geschichten gelehrt haben und ich im Job-Alltag umsetzen möchte:

5. Ich will Michel seine Kreativität und Lebendigkeit zugestehen 

Und nicht wie die Erwachsenen in der Geschichte mit Verständnislosigkeit, Ungeduld und Strafen reagieren. (Ich habe schon als Kind mit Michel gelitten. Aber wie Kinder so sind, er macht das Allerbeste draus und wendet sogar noch die Strafe seiner U-Haft im Schuppen in geschnitzten Figuren um.)

6. Ich will Anika dabei helfen, dass sie sie selbst sein darf

Ihr ihre Angst nehmen und sie auf Bäume klettern lassen ohne die Angst, dass ich meine Aufsichtspflicht vernachlässige.

7. Ich will wie Pippi manchmal einfach in den Tag leben

…mal sehen worauf wir (Kinder und Team) so Lust haben und es dann einfach machen.

8. Ich will Lotta ihre Autonomie zugestehen 

…und ihre Wutanfälle – wissend um deren entwicklungspsychologische Wichtigkeit – aushalten.

9. Ich will mit Ronja Räubertochter die Natur erkunden

Denn nichts setzt mehr Kreativität und Lernlust frei als die Natur.

Und der letzte und extrem wichtige Punkt:

10. Aktive und sehr lebendige Kinder brauchen keine Medikamente!

Pippi, Michel und Lotta, viele von ihnen sind heute in Behandlung, sie bekommen Medikamente, sind in Therapie oder beim Anti-Aggressionstraining. Viele Kinder gehören da aber nicht hin. Natürlich gibt es Kinder mit Verhaltens-Besonderheiten, die besondere Förderung und Unterstützung brauchen. Aber Pippi, Lotta, Michel & Co nicht. Sie sind einfach nur Kinder mit ganz normalen kindlichen Bedürfnissen und Äußerungen, die ihren Entwicklungsphasen entsprechen.

Liebe Astrid, ich weiß du hast ganz bewusst für Kinder geschrieben und nicht für uns Erwachsene. Aber ich habe sehr viel von dir gelernt und dafür danke ich dir sehr!!

PS: Ach ja, auch heute noch steht ein gepunktetes Pferd auf der Veranda auf meiner Wunschliste.

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