Liebe Lehrerinnen und Lehrer - geht es nicht auch ohne Stress?

Aurelia Hagenmayer besucht die Oberstufe einer Schule im Kanton Bern und hat ihren Lehrpersonen einen Brief geschrieben. Denn: Die meisten Schülerinnen und Schüler in der Klasse leiden unter Stress vor den Tests. Das zumindest beobachtet Aurelia. Sie stellt den Brief mit Originaltext der Lernbewegung zur Verfügung,um eine Diskussion zum Thema anzuregen - und beantwortet uns nachfolgend ein paar Fragen.

Liebe Lehrerinnen, liebe Lehrer

 Am Montag habe ich sehr positive Neuigkeiten bezüglich den Bewertungen vernommen. Da wäre mein Brief eigentlich nicht mehr nötig. Da ich ihn nun schon geschrieben habe und es mir wirklich ein grosses Anliegen ist, auch für alle Kinder und Jugendliche, welche nach mir noch in die Schule gehen, habe ich ihn Ihnen nun trotzdem geschickt.

Ich schreibe Ihnen bezüglich dem Stress. Ich habe nämlich eine Bitte...für die ganze Klasse… für die ganze Schule...

 Seit den letzten Sommerferien, länger bin ich ja noch nicht an der Schule, haben wir in der Klasse einige Lektionen damit verbracht, über das Thema Stress zu sprechen. Es kam immer heraus, dass fast die ganze Klasse unter Stress vor den Tests leidet. Ich finde das ein schlimmes Ergebnis.

Als wir das erste Mal über dieses Thema sprachen, fand ich es gut, dass wir in der Schule über dieses uns allen bekannte und leider allgegenwärtige Thema sprechen. Doch als wir dann nach den Winterferien schon wieder Lektionen damit verbrachten und auch noch die Schulsozialarbeiterin kam, dachte ich mir, wieso schon wieder? Ich fühlte mich nicht ernst genommen. Wenn wir alle paar Wochen dasselbe Thema besprechen müssen, zeigt dies doch, dass etwas Grundsätzliches nicht stimmt, dass es nichts bringt, dass man so nicht weiter kommt. Ich finde das sehr ermüdend. Wir bekamen jedes Mal Blätter oder erarbeiteten sie selbst, mit Theorien, wie man am besten Stress vermeiden oder abbauen kann. Am nächsten Tag bekamen wir trotzdem 3, 4 Tests für die nächste Woche angesagt. Wie kann man da an entspannen denken? 

Nun, schon bald ist Notenschluss. Ich nehme an, dass Sie wegen dem Fernunterricht nicht alle geplanten Tests durchführen konnten und die, sobald die Schule wieder offen ist, nachholen wollen. Das kann ich auch verstehen. Vielleicht müssen Sie sowieso noch einige Noten verteilen, da Sie noch zu wenig haben, so wie vor dem Notenschluss für die Gymnasiumaufnahme.

Ich bitte sie nun, miteinander zu sprechen! Ein bisschen zu planen! Ich glaube Sie würden damit sehr vielen einen großen Gefallen tun. Es wäre wirklich sehr nett von Ihnen und ich würde mich sehr freuen, wenn es Ihnen gelingt, dass wir nicht alle Tests auf einmal oder in der letzten Woche haben, dass wir nicht so einen mega Stress beim Lernen haben. Sie könnten auch stolz darauf sein. Bitte sprecht miteinander! Wollen sie uns wirklich so einen Stress antun?

Ich wünsche Ihnen ein gutes Gelingen und bleiben Sie gesund!

Liebe Grüsse 

Aurelia

 P.S. Würden Sie an unserer Stelle sein wollen?

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“Die Schule sollte ein Ort sein, an dem Wissen ausgetauscht und nicht eingetrichtert wird”

Interview: Mireille Guggenbühler

Aurelia, Du hast Deiner Schule einen Brief geschrieben, in welchem Du das Lehrerkollegium aufforderst, das Thema Stress etwas ernster zu nehmen. Wie war die Reaktion darauf?

Ich bekam bis jetzt zwei Rückmeldungen. Mein Klassenlehrer hat mir einen langen Brief geschrieben. Er meinte, dass es den meisten Schülerinnen und Schülern in unserer Klasse gut geht und dass im 8. Schuljahr naturgemäss Stress aufkomme. Er will den Brief aber auch als Anlass nehmen, in einer pädagogischen Konferenz zu besprechen wie man vermeiden kann, dass alle Lernkontrollen auf einmal stattfinden.

Weshalb hast Du den Weg über den Brief gewählt und nicht das Gespräch gesucht?

Ich dachte mir, dass ihn so alle lesen  und somit dasselbe wissen über mich.

 Inwiefern fühlst Du Dich ernst genommen mit Deinem Anliegen?

Ich glaube trotz der beiden Rückmeldungen nicht, dass sie mein Anliegen wirklich verstanden haben.

Regierungsrätin Christine Häsler hat festgehalten, dass aufgrund der gesamten Schulsituation wegen Corona, bis zu den Sommerferien notenrelevante Beurteilungen zurückhaltend erfolgen sollen und nur jene Leistungen in die Gesamtbeurteilung einfliessen, die für die Schülerin oder den Schüler eine Verbesserung darstellen. Zudem dürfen nur Kompetenzen geprüft werden, die ausreichend vertieft und geübt werden konnten. Diese Weisung nimmt euch vielleicht etwas den Druck - oder was denkst Du?

Doch, ich denke, das nimmt bestimmt etwas Druck weg, aber mir geht es ja auch darum, dass es der nächsten 8. Klasse nicht gleich ergeht. Ich wünsche mir eine dauerhafte Veränderung, welche nicht nur in einer Krisensituation anhält.

Findest Du Noten grundsätzlich sinnvoll?

Ich finde, wenn es schon Noten gibt, sollten sie nicht dazu gebraucht werden um einem Schüler zu zeigen, wie gut oder schlecht er ist, sondern um einem Lehrer zu zeigen, ob er sein Thema verständlich erklärt hat oder ob er es nochmals vertiefen muss.

“Noten zeigen,ob ein Lehrer ein Thema verständlich erklärt hat oder nicht.”

Würden Jugendliche genug lernen, wenn sie keine Noten bekommen würden?

Die meisten Jugendlichen würden nur noch das lernen, bei welchem sie einen Sinn dahinter sehen. Und um einen Sinn zu sehen, brauchen sie ein Ziel. Ein Ziel ist zum Beispiel ein Berufswunsch oder ein anderes Projekt. Wenn sie nun wissen, das sie für diesen Beruf Französisch können müssen, dann hat das Französischlernen einen Sinn. Es macht ihnen Spass, es geht leichter und schneller.

Ist es nicht so, dass die meisten Jugendlichen die Noten grundsätzlich schätzen, um zu wissen, woran sie sind?

Nein, ich denke nicht. Wenn man in einem Englischwörtertest eine gute Note hat, bedeutet das nicht unbedingt, dass man gut Englisch kann, sondern dass man gut auswendig lernen kann.

Was wäre in Deinen Augen eine gute Form der Beurteilung oder Rückmeldung auf den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler?

Also, ich denke bei einem natürlichen Lernprozess merkt man gar nicht, dass man am Lernen ist. Man sammelt einfach Erfahrungen. Deswegen finde ich nicht, dass es möglich ist, einen richtigen Lernprozess zu beurteilen. Man kann höchstens über die gesammelten Erkenntnisse sprechen.

“Einen richtigen Lernprozess kann man nicht beurteilen.”

Du hast selber verschiedene Schulformen erlebt. Was waren Deine bisher besten Erfahrungen und warum?

Ich habe während meiner Schulzeit verschiedene Praktikas machen können, beispielsweise bei den Schafen auf der Winterweide, in der Theaterschneiderei und auf der Alp. Dabei machte ich viele tolle Erfahrungen. Alles, was ich dort machen konnte, ergab einen Sinn, war realitätsnah und ich konnte mit meinen Einsätzen stets jemandem helfen. 

Wie sähe aus Deiner Sicht die ideale Schule aus und welches wären die Rollen der Lehrkräfte, der Schulleitung und der Eltern?

Ich finde, die Schule sollte ein Ort sein, an dem Wissen ausgetauscht werden kann und nicht eingetrichtert wird. Lehrkräfte wären Personen mit einem grossen Wissen auf einem speziellen Gebiet wie zum Beispiel Mathematiker, Astronauten, Gärtner, Aktionäre, Putzfrauen usw. Ihre Rolle dabei wäre, den interessierten Kindern und Jugendlichen sowie Erwachsenen ihr Wissen weiterzugeben und zwar, sobald und solange sie Interesse haben. Die Rolle der Schulleitung wäre es dann, die entsprechenden Menschen miteinander zu verbinden und allenfalls Neue zu suchen. Die schwierigste Rolle haben die Eltern. Sie sollten ihrem Kind einfach mal vertrauen. Auch wenn es zum Beispiel mit zehn Jahren noch nicht lesen kann. Es sah bis jetzt wahrscheinlich einfach keinen Sinn dafür. Es wird aber bestimmt nicht sein Leben lang fragen wollen: „Was steht da?“ .

“Eltern sollten ihrem Kind einfach mal vertrauen.”

Wie hast Du die Corona-Zeit erlebt als Schülerin?

Wir hatten viel mehr Freiheiten. Wir mussten die Aufgaben schon zu einer bestimmten Zeit abgeben, aber wir mussten nicht zu einer bestimmten Zeit anwesend sein oder das lernen, was auf dem Stundenplan stand. Wir konnten dann lernen, wann es für uns am einfachsten ging. Das war sehr erleichternd.

Was denkst Du, was sollten die Schulen aus der Corona-Zeit mitnehmen in die Zukunft?

Dass es den Schülern sehr viel bedeutet, ihre Zeit selbst einteilen zu können. In den Schulen könnte man sich auch folgendes überlegen: Wenn gewisse Aufträge nicht erledigt worden sind, dann entsprechen diese Themen vielleicht gar nicht unserem Alter oder Lebensabschnitt. Vielleicht würde es zum Beispiel mehr Sinn machen, über die aktuelle Situation zu sprechen, als über den 2. Weltkrieg.